Athen, 31. Januar 2024
Geschätzter Hermann Broch,
Mein Brief ist eigentlich nicht an Sie persönlich adressiert, denn Sie wissen längst, worüber es mich zu schreiben verlangt. Der Brief richtet sich an eine jüngere Leserschaft in der Gewissheit und mit dem Wunsch, dass sie je zahlreicher werden möge, desto länger die Leere das Selbst in ein Nicht-Selbst verwandelt und die Überlegenheit der Vernunft in der Stille der Geschwätzigkeit ertränkt wird. Sie wissen ja auch, dass zunächst die tief schlummernde Sensibilität des Blickes geweckt werden muss, um die zu Grunde liegende Fähigkeit zur Reflexion zu erwecken.
Dies ist auch ein Grund, geschätzter und verehrter Broch, warum mein Brief Dringlichkeitscharakter hat, denn wer hätte gedacht, dass wir nach dem Dreikaiserjahr 1888 und so vielen darauf folgenden einschneidenden Jahren, die den aufkommenden Sturm der Leere vorzeichneten oder gar herausschrien, dass wir danach erneut Zeugen dessen würden, was wir nun seit einiger Zeit beobachten, nämlich ein sich Aufblähen dieser Leere, gleich einem mit der Luft abgrundtiefer Rivalitäten gefüllten Ballon. Einer Leere, die erneut auf der Jagd nach Unendlichkeit außerhalb der Endlichkeit in Erscheinung getreten ist, als ob die Phasen der vorausgegangenen Vernichtung in Vergessenheit geraten wären. Und nun verschlingt uns das Nichts – wie ein Geier mit Klauen und Schnabel, mit denen wir ihn selbst ausgestattet haben –, und wir sehen apathisch zu, als geschehe nichts Beunruhigendes.
Ich lernte Sie durch den ersten Band Ihrer meisterhaften Trilogie Die Schlafwandler um die schläfrige Romantik des Helden Pasenow kennen, auf den ich gleich die anderen beiden Bände folgen ließ: den zweiten, fünfzehn Jahre später spielenden Band um Esch und die Anarchie der Belle Époque sowie den wiederum weitere fünfzehn Jahre später einsetzenden dritten Band zum Ende des Ersten Weltkriegs, der die Beziehung zwischen dem elsässischen Huguenau, Pasenow und Esch thematisiert – einer so zynischen und amoralischen Beziehung, dass nur die Sachlichkeit sie nüchtern darzustellen vermag: Drei Bände, wenn auch nicht elegant, so doch auch keineswegs unstrukturiert, die mit der üblichen skandalös nachlässigen Verspätung erst 1987 und 1988 auf Griechisch erschienen sind, als ob Griechenland nach all dem, was es hat durchstehen müssen, es nicht ertrüge, all das zu rekapitulieren, was aus seinem harten Kampf hervorgegangen ist, und das Dämonische mit dem Rationalen in eigenen Dichtungen zu vereinen. Aus Ihrer Warte als Wiener Platoniker muss das unverzeihlich wirken, bedenkt man die drückende Bürdedes kulturellen Erbes, die auf unseren Schultern lastet. Zu unserer Entlastung sollten Sie aber immerhin bedenken, wie oft wir einer ruinösen Zerstörung zum Opfer gefallen sind.
Die Bekanntschaft mit den Schlafwandlern – dem ersten Meisterwerk Ihrer literarischen Laufbahn – machte ich in einer Zeit, als auch ich im nächtlichen Zimmer aus Angst vor enthüllenden Träumen wie ein Schlafwandler hin- und herlief, den im Wachzustand nach der wohltuenden Regungslosigkeit des Schlafs verlangt. Wenn ich damals, zur Zeit des Mauerfalls, mir fest vornahm, die drei schmalen Bände aufmerksam zu lesen, und sie ehrfürchtig neben die gelesenen Bücher einer trägen Jugend ins Regal stellte, neben die Bücher und Tagebücher von Kafka, Musil, Thomas Mann und dessen Sohn Klaus Mann, die Duineser Elegien und die Aufzeichnungen des Malte Lauritz Brigge von Rilke, dann deshalb, weil ich wie vom Blitz getroffen war, als ich feststellen musste, dass das vierte und letzte der ansonsten gleichlangen und in etwa gleichartigen Kapitel des zweiten Bandes Ihrer Trilogie, die Sie der Romantik und der Anarchie widmeten, skandalös knapp war: es umfasste gerade einmal zehn Zeilen.
Ich erschrak, weil ich mein eigenes Buch auf dieselbe Art mit einem sehr kurzen Kapitel von drei Zeilen beendet hatte, sodass der Leser am Ende des elften Kapitels Gefahr läuft, das Ende der Geschichte zu verpassen, sollte er die Seite nicht umblättern. Ich hatte das Buch 1980 beendet, als ich von Ihrer Existenz als Schriftsteller noch nichts wusste und mich rühmte, für das Ende meines ersten Romans ein neues Verfahren erfunden zu haben. Nur ein Jahr zuvor hatte ich einem befreundeten Schriftstellerkollegen aus Paris Der Tod des Vergil geschickt, aber damals, mit dem Fasten, das ich mir auferlegt hatte, als ich meine intellektuelle Neugierde stillen wollte, die mich schon seit meiner Kindheit umtrieb, waren es andere Dinge, die michplagten, meine Doktorarbeit in Philosophie und mein ideologischer Liebesroman Androgeos (gr. Originaltitel Ανδρόγυς).
Offener Brief: Alexandra Deligiorgi an Hermann Broch
Alexandra Deligiorgi wurde in Thessaloniki geboren und lebt in Athen. Sie studierte Philosophie an der Aristoteles-Universität Thessaloniki und Soziologie/Ethnologie an der Sorbonne. Sie ist emeritierte Professorin für Philosophie (Aristoteles-Universität Thessaloniki). Sie hat Beiträge für philosophische und literarische Zeitschriften verfasst und schreibt für die Presse. Sie ist Autorin von philosophischen Studien, Essays, Romanen und Erzählungen. Sie wurde 1998 mit dem Staatspreis für Essayistik und 2012 mit dem Nikos-Themelis-Romanpreis ausgezeichnet. Ihr offener Brief an Hermann Broch wird demnächst in der Edition Romiosini veröffentlicht. In dieser Vorabveröffentlichung bieten wir Ihnen einen Auszug aus dem Offenen Brief.